Interview Westfalenpost April 2017
WP: Herr Fischer, haben Sie Geschwister und wenn ja, haben Sie sich mit ihnen mal in den Haaren gehabt?
Klaus Fischer: Ich habe zwei Geschwister und bin da das Sandwich-Kind. Die Streitereien unter Geschwistern habe ich auch selber erlebt. Da ging es bei uns zu, wie überall in anderen Familien auch.
WP: Wieso kommt es zwischen Geschwistern zu Streits und Rivalitäten?
K.F.: Der Grundkonflikt zwischen Geschwistern ist der Kampf um die Aufmerksamkeit der Eltern. Vorderkünftig kämpfen sie um Kleinigkeiten: Wer sitzt vorne oder am Tisch neben wem, wer bekomt als erster etwas Süßes und solche Sachen. Eigentlich geht es darum, die Aufmerksamkeit der Eltern zu bekommen, die man sonst teilen muss. Wer von den Kindern bekommt mehr Aufmerksamkeit? Wen haben die Eltern lieber? Das sind die Fragen, die damit angesprochen werden. Kinder sind sehr auf die Liebe und Fürsorge der Eltern angewiesen. Und dann sehen sie, dass es noch jemanden gibt, der das gleiche Bedürfnis hat.
WP: Welche Ausmaße können diese Streits und Rivalitäten annehmen?
K.F.: Da gibt es eine große Bandbreite. Es gibt harmlose Rivalitäten und Auseinandersetzungen, bei denen sich die Kinder schnell einigen. Heute spielt Kind A mit dem Spielzeug und morgen Kind B beispielsweise. Es gibt aber auch Dauerkonflikte und Kämpfe um alles und jedes. Viele Kinder bekommen das in der Regel langfristig hin und die Lage entspannt sich spätestens beim älter werden. Manchmal ziehen sich diese Streits auch bis ins Erwachsenenalter .
Gerade beim Thema "Erben" gibt es dann viele Streitigkeiten unter den Geschwistern und alte Rivalitäten brechen wieder auf, alles aus der Kindheit wiederholt sich. Dann gibt es viele kleine Streits, wer erbt was oder wer fühlt sich ungerecht behandelt. Im schlimmsten Fall steigert sich diese Kluft dann bis zu einem Kontaktabbruch.
WP: Bis zu welchem Ausmaß gelten die Rivalitäten denn noch als normal?
K.F.: Solange Kinder neben den Streitereien auch immer wieder Phasen des verträglichen Miteinanders hinbekommen, ist Geschwisterstreit zwar anstrengend aber normal. Schwierig wird es, wenn Kinder sich kaum mehr ertragen oder nebeneinander dulden können, sich gegenseitig verletzten oder niedermachen. Die Frage ist immer: Sind Kompromisse möglich, können Kinder wieder zu einem verträglichen Miteinander finden oder nicht. Oder schlagen sich die Kinder, bestehlen sich oder zerstören Spielsachen des anderen. Dann wird es schwieriger für die Eltern.
WP: Was können Eltern machen?
K.F.: Für Eltern ist es zunächst wichtig, ihren Kindern zu vermitteln, dass jeder in der Familie seinen Platz hat. Und zwar jeder so, wie er ist. Dazu gehört auch, dass Kinder lernen müssen auszuhalten, dass Eltern sich mal mehr mit dem einen, dann mehr mit dem anderen Kind beschäftigen. Es geht auch nicht darum jedes Kind gleich zu behandeln sondern den Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass jeder das bekommt, wer er/sie gerade braucht.
Der große Vorteil des Alltags mit Geschwistern ist, dass die Kinder wichtige soziale Kompetenzen erwerben. Sie lernen, zu teilen, sich zurückzunehmen, sich durchzusetzen und wie schön es sein kann, etwas mit anderen gemeinsam zu tun
WP: Ab wann sollten Eltern einschreiten?
K.F.: Wenn sie merken, dass die Kinder die Situation nicht alleine regeln können. Ansonsten sollten sie sich so weit wie möglich aus den Streitereien raus halten. Das gilt vor allem, wenn die Geschwister alterstechnisch nah beieinander sind. Das klappt häufig. Kinder versuchen gerne, die Eltern auf die eigene Seite zu ziehen, aber das ist natürlich eine Falle, bei der die Erwachsenen dann das andere Kind gegen sich aufbringen.
Wenn Eltern eingreifen müssen, weil Kinderstreit sonst eskaliert, sollten sie eher eine Mediator-Rolle einnehmen und den Kindern helfen, wie sie selbst die Situation am besten lösen können. Sie geben dann eine Hilfestellung, aber die Kinder machen doch den größten Teil der Arbeit und suchen selbst nach Lösungen. Das ist besser als beispielsweise zu sagen „heute bestimmt Kind A was im Fernsehen läuft“. Der Vermittler ist besser als der Schiedsrichter.
WP: Dürfen die Eltern dem Begehren der Kinder, sich auf die Seite zu schlagen denn überhaupt nicht nachgeben?
K.F.: Die Seite des Kindes einnehmen ist in Ordnung, wenn ein Kind eindeutig unterlegen ist, es beispielsweise wochenlang krank war und gewisse Dinge nicht machen konnte und dementsprechend jetzt mehr Zuwendung braucht.
WP: Was lernen die Kinder noch aus diesen Situationen?
K.F.: Die Kinder lernen vieles, was später gut gebraucht werden kann. Beispielsweise können sie im Kindergarten und in der Schule das Gelernte anwenden, wenn es darum geht sich durchzusetzen, zurückzustecken oder etwas zu teilen. Das Leben mit Geschwistern ist dahingehend ein gutes Übungsfeld. Das fehlt sonst im häuslichen Alltag ohne Geschwister.
WP: Was lernen die Eltern aus der Rivalität?
K.F.: Sie lernen vor allem, ihren Kindern etwas zuzutrauen. und ihre eigene Energie und Aufmerksamkeit zu dosieren. Sie lernen auch, jedes Kind als Individuum zu sehen, mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen, Stärken und Schwächen. Sie lernen auch, dass es wichtig ist, Kindern zuzutrauen, Konflikte selbst zu regeln und sich selbst bei Geschwister-Streitigkeiten zurückzunehmen..
WP: Wie können Eltern das eigene Heim harmonisch gestalten?
K.F.: Ein ganz wichtiger Faktor ist Zeit. Zeit als Familie zusammen aber auch Zeit für die jeweils einzelnen Familienmitglieder. Die Aufgabe ist es also, auf der einen Seite den Teamgeist zu stärken, auf der anderen Seite aber auch die Individualität der einzelnen Geschwister zu fördern. Dies erfordert eine Menge an Energie, aber nur so behalten Kinder den Familienalltag nachhaltig in positiver Erinnerung.
WP: Was ist das besondere an der Geschwister-Beziehung?
K.F.: Den Kindern wird oft erst später klar, dass sie mit ihren Geschwistern am längsten zu tun haben im Leben. Die Eltern sterben nach ein paar Jahrzehnten, die eigenen Partner lernt man erst Jahre später kennen, aber Geschwister begleiten einen oft bis ins hohe Alter. Daher lohnt es sich, die Zeit so zu gestalten, dass alle etwas voneinander haben und positive Erlebnisse entstehen. Es ist ein ausgesprochen gutes Gefühl, zu wissen, dass man sich immer auf den Bruder oder die Schwester immer verlassen kann, wenn man sie braucht.
WP: Wie können Eltern die Geschwisterliebe fördern?
K.F.: Wenn die Eltern den Kindern vermitteln, dass sie als Einzelpersonen wichtig sind, dass jede/r so wie er ist, in der Familie respektiert und gemocht wird dann können die Kinder das gelernte an ihre Geschwister weitergeben. Wenn Eltern es schaffen, Zusammenleben als positiv erlebtes Miteinander zu vermitteln, merken Kinder langfristig, dass Geschwister nicht nur Konkurrenten um die elterliche Liebe sind, sondern auch das eigene Leben bereichern können Sie akzeptieren dann eher, dass da noch jemand ist. So klappt das Spielen besser, sie helfen sich gegenseitig, erzählen einander Geschichten. Das verbindet.